Mittwoch, 26. August 2009

Dienstag, 11. Juli 2000 @ 11:41:16

Von: charts@charlydavidson.com
An: ursula-maus@tkun.de
Betreff: Schneller, höher, weiter!

Hallo meine Liebe,

so, jetzt habe ich wieder Zeit für Dich ... und ich was sehe ich? Es ist exakt einen Monat her, daß wir den ersten Mail-Kontakt hatten. Ich finde, das hat sich ja alles sehr rasant entwickelt und momentan gehst Du beim Treppensteigen gleich zwei Stufen auf einmal; ich komme kaum noch hinterher...

...nicht so schnell meine Liebe (Liebe = rein bemerkenswert gemeint. Tucholsky und Weltbühne-Herr-Ausgeber Jacobsen haben es sich in fast jedem ihrer zahllosen Briefe und Postkarten an den Kopf geworfen: ‘Mein Lieber!’ hier und entrüstet: ‘Mein lieber Freund!’ da, und so weiter). Also nochmal:

...nicht so schnell meine Liebe. Jetzt kommen gleich mehrere Paradoxen: Obwohl Du das bestellte Buch eigentlich gar nicht mehr brauchst, brauchst Du es trotzdem um so mehr. Ich hatte es Dir nicht gesagt: Die Schleife von Achilles und der Schildkröte ist de facto die Basis des Buches und beide Gestalten ziehen in Hofstadters Beispielen durch Wissenschaft und Musik und manchmal auch auf das Oktoberfest.

Was erzählst Du das von ‘Unkenntnis über das Moebius-Band’? Du kennst es in Wirklichkeit schon lange. - Intention für das Prinzip ist die Basis für das, was Nach-Denken kommt. --- Willkommen also im 2. Stock!

Zum Katalogisieren:

Die Deutschen - und leider so gut wie NUR die Deutschen - sind KATEGORISCHE Einsortierer. Ebenso fest wie Sauber- und Gründlichkeit ist das ‘Sag mir, was du macht und ich sage dir wer du bist!’-Prinzip im Deutschen verwurzelt. Hinzu kommt der Erklärungsnotstand. Während der Britanne sagt: „Thats life“ (im Deutschen mit: „Was soll’s? - Es ist halt so.“ zu übersetzen) sagt der/die Deutsche: „Es ist halt so, aber...“ und fängt an zu erklären warum. --- Der Grieche, das hängt wohl mit der philosophischen Tradition zusammen, sagt dagegen: „Es ist so? - Warum?“. Und das führt mich wieder vordergründig zu Nietzsche, hintergründig zu Deinen Deutschlehrern, tiefgründig zu Goethe, grundsätzlich zur Poesie und im weitesten Sinne nach Jena (...diesmal muss ich aber nachschlagen!).

Nietzsche schreibt in „Menschliches, Alllzumenschliches“: „Abgesehen von der Zeit, wo Schiller ihn aus der enthaltsamen Scheu vor der Poesie, aus der Furcht vor allem literarischen Wesen und Handwerk hinaustrieb, erscheint Goethe wie ein Grieche, der hier und da eine Geliebte besucht, mit dem Zweifel, ob es eine Göttin sei.“

Zum Gespräch während des „Personalkarussels“:

Das ist auch so etwas grunddeutsches; man/frau redet frei vom Herzen weg, stellt plötzlich fest, dass er/sie sich total versprochen hat und sagt dann: „Das war doch nicht so gemeint.“. Noch besser kommt an: „Anwesende natürlich ausgenommen.“ oder als mehr-schichtige Variation 1: „Ich meine jetzt nicht dich, ABER...“ und 2: „Ich meine jetzt nicht dich, aber GIB DOCH MAL SELBST ZU, dass...“.

Zum latenten Ausländerhass:
Ich kann Dir nur zustimmen, dass die Welt der Ausländer ebensowenig schwarz-weiß wie die unsere ist. Um bei schwarz-weis zu bleiben. Mir tut es weh, dass z. B. ein Teil der dunkelhäutige Ausländer mit Drogen handelt und ich denke nicht, dass sie es überwiegend deswegen tun, weil sie auch ein bisschen Lebensglück haben wollen; aber darum soll es jetzt nicht gehen. Daraus machen dumme Menschen dann das Vorurteil: ‘Alle Schwarzen/Neger sind Drogenhändler...’; Nebensatz: ‘...obwohl sie doch als Asylanten von unserem Staat genug Geld bekommen.’.

Drogenhandel als Synonym der Hautfarbe! - Das ist es. - Das ist der typisch (und nicht nur ost-)deutsche Rassismus. - Dass Drogenhandel eine Frage der Kriminalität und nicht der Hautfarbe ist, interessiert offensichtlich die wenigsten. Hier arbeite ich mit Beispielen. Ich erzähle von dem Schwarzen, dessen Auto von einem Polen gestohlen wurde und der jetzt anderen Schwarzen erzählt: „Alle Weißen sind Autodiebe.“ --- Das reicht... (...leider oft nur für den Moment.)

Letztes Mal versprach ich Dir ein Gedicht von Kästner und das geht so:

„Als sie sich acht Jahre kannten / (und man darf sagen: sie kannten sich gut), / kam ihre Liebe plötzlich abhanden. / Wie anderen Leutenein Stock oder Hut. # Sie waren traurig, betrugen sich heiter, / versuchten Küsse, als ob nichts sei, / und sahen sich an und wussten nicht weiter. / Da weinte sie schliesslich. Und er stand dabei. # Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken. / Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier / und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken. / Nebenan übte ein Mensch Klavier. # Sie gingen ins kleinste Cafe am Ort / und rührten in ihren Tassen. / Am Abend sassen sie immer noch dort. / Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort / und konnten es beide nicht fassen.“

Ja, ja, wenn bloß nicht immer „... mittendrin das dumme Herz“ wäre, wie Frau Steineckert mal geschrieben hatte.

Zu Deiner Beschreibung von Situationen, in denen Du das dringende Bedürfnis verspürst, mit dem Löffel in die Schlagsahne zu hauen oder vielleicht einfach davonzudüsen gibt es eine Erkenntnis für Dich: Oft passiert es, dass man/frau einfach nur noch nur noch weg will. Raus und Aus! - Wenn man da die Kurve kriegt und eine Schleife dreht und zurückkehrt (z. B. wie ein sanfter, nicht verletzlicher Boomerang), dann geht oft alles andere wie von selbst.

In diesem Sinne sollten wir unsere Runden drehen und immer wieder zurückfinden. Oder wie sagte es einmal Arthur C. Clarke: „Das, meine Damen und Herren, ist aber wie sie sich denken können nur Fiktion. Die Wirklichkeit wird wesentlich weiter gehn.“

M(anche) f(inden das) G(rossartig)

ChD

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