Dienstag, 25. August 2009

Montag, 26. Juni 2000 @ 19:30:30

Von: ursula-maus@tkun.de
An: charts@charlydavidson.com
Betreff: bürokratische Dialek- tik

Lieber Karli (warum denn nicht mals Chary zur Abwechslung?),

offensichtlich gab es wieder einen Stau auf der virtuellen Straße, Deine beiden E- mails erreichten mich heute früh-abend gleichzeitig. (Ich hatte schon vermutet, Du wolltest mich das Warten lehren!)

Zu Deiner Schreibfehler- Berichtigung kann ich nur sagen: Da mir im schreibenden Eifer ebenfalls einige unterlaufen sind, und das auch wohl noch tun werden, kannst Du auf mein Verständnis hoffen. Elektronische Fernschachspiele unterliegen nicht der Zensur!

Deine Version der Geschichte der Bürokratie hat durchaus etwas für sich. Ohne den geringsten Zweifel befinden wir uns in ihrer " Blütezeit". Allerdings gebe ich zu bedenken, daß es doch schon eine erhebliche Menge an bürokratischen " Früh- Blühern" in der Zeit vor dem 18. Jahrhundert gab - vielleicht ist es so eine Art bürokratischer genetischer Defekt. Denke nur an die Schreiber des alten Ägypten oder an die Verwaltung des römischen Reiches!

Hier nun meine Zugabe zu diesem Thema:
Wie jede andere, manchmal auch nur scheinbar, herrschende Klasse bringt auch die Bürokratie ihre eigene Sprache mit. Das ist für mich in erster Linie die Sprache der " Sinn- Macher" und der " Es- muß- Sich- (ver)Rechnenden". In diesem Zusammenhang fällt mir ein vermutlicher solcher ein: Wahrscheinlich kommt der sonderbare Ausdruck " unter der Woche" gar nicht, wie von mir ursprünglich vermutet, aus einer dialektischen Ecke dieses Landes, sondern aus einem der Häuser, " die Verrückte machen"! Bisher habe ich mich bei dieser Sprachschöpfung immer gefragt, wie man denn um Gottes Willen unter eine Woche kommen könne. Jetzt wird mir das natürlich klarer:
Wenn man ständig die Last einer Woche voller Akten trägt, fühlt man sich "unter der Woche" ziemlich schlecht!

Damit bin ich wieder bei den Ähnlichkeiten von Aristokraten und Bürokratengelandet:
Aristokraten leiden unter der Last ihrer Titel und Bürokraten leiden unter der Last ihrer Titel und unter der Woche. Auch das von mir schon einmal zitierte ud von Dir fein erkannt Buch gibt zu diesem Thema einiges her. Da Bürokraten gern von VerordnUNG, PlanUNG, BedeutUNG, ja neuerdings sogar von " VerschriftlichUNG" reden, kann ich dazu nur in freier Übereinstimmung mit dem Autor sagen: "...ung, ...ung, ...ung!" Das Wortungetüm " Verschriftlichung" zählt zu den Wörtern, nicht Worten, die mich wirklich zu Begeisterungsstürmen hinreißen. Ich schreibe keine E- mails mehr, sondern ich " verschriftliche" sie!?

Schriftsteller heißen dann demnächst vermutlich " Verschriftlicher" oder " Verschriftlichungs- Sachbearbeiter"!? ( Ehrlich gesagt, läßt das Wort " Schriftsteller" für Dein Paradoxon ja auch schon einigen Sprach- Spielraum!)

Mut zu zeigen setzt in gewisser Weise voraus, daß man den Mut, den man/frau zeigen will, auch vorher fühlen muß. In so fern ist Deine Entdeckung ein Grund zur Freude. Das menschliche Problem besteht hauptsächlich darin, daß einige, oder viele?, den Mut nicht fühlen, ergo auch nicht zeigen.

Ich denke: Ohne seinen Mut zu fühlen, wird man auch seinen Mut nicht fühlen! Mutproben, die nie durchgeführt wurden, prägen die Lebenserfahrung, aber sind sie nicht auch Ausdruck dessen, daß man/ frau Mut zwar fühlen kann, aber nicht wagt, ihn zu er-proben?! ( Schließlich handelt es sich um eine Probe, die man notfalls abbrechen oder ändern kann!)

An meinen eigene Er- Kenntnissen zu den " Rehen" muß ich noch arbeiten. Auch mir wird es, zu seinen hoffentlich recht langen Lebzeiten, nicht gelingen, so alt zu werden wie ChD. Mir bleibt die Hoffnung, Tucholsky altersmäßig zu überleben - ich nähere mich diesem Ziel mit jedem Tag mehr.

Mit meiner Hoffnung auf weitere virtuelle Unterhaltung mit sprachlichen und philosophischen Höhenflügen
verbleibe ich

als ebenfalls Nicht- Philosophin,
die ChD inzwischen kennt und achtet ohne ihn wirklich zu kennen,
ihren Job ernst nimmt
und neben Mann, Kindern, Büchern und Musik
Zeit und Spaß findet an der Kommunikation mit einem guten virtuellen Unterhalter

Lächelnde, aber nicht grinsende Grüße

Uschi

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