Mittwoch, 26. August 2009

Samstag, 8. Juli 2000 @ 19:53:05

Von: ursula-maus@tkun.de
An: charts@charlydavidson.com
Betreff: Im Ernst und länger

Hallo mein Lieber,

heute nun meine ernsthaft versprochene, ernsthaft längere Antwort:

Noch etwas schräg im Kopf - weniger vom Alkohol, der hätte mich in dieser Hitze total erlegt, sondern vom Schlafmangel - schaltete ich heute morgen zuerst meinen Computer an, um Deine E- mail zu lesen. Vermutlich leide ich inzwischen unter den 1. Anzeichen von E-mail-Sucht, denn ich hatte noch nicht mal den 1. Schluck Wiederbelebungskaffee getrunken! ( Obwohl - "leiden" ist nicht so das richtige Wort!)Das ich trotzdem erst jetzt Zeit für meine Antwort habe, liegt nur in meinen außerhalb von Seifenblasen befindlichen alltäglichen Verpflichtungen begründet.

Auch ( oder gerade) Deine poetisch- melancholische Stimmung hat mir zwei wertvolle E- mails beschert, die mir den virtuellen E- mail- Schreiber etwas deutlicher und persönlicher zeigen. Da ich Dir ja eine längere Antwort versprochen habe, lasse ich mir jetzt Zeit, mich langsam durch den 1. Stock vorzutasten und dabei Dir etwas zu dem zu schreiben, was Du mir aufgeschrieben hast und Dir gleichzeitig etwas von mir zu erzählen. Die Geschichten, die Du mir diesmal über Dich erzählt hast, haben für mich, Du hast es poetisch gesagt, "einen Wert an sich". Was ich von mir erzählen könnte und heute auch ein wenig erzählen werde, ist weitaus alltäglicher und viel davon hängt mit meinem Job zusammen, der für mich viel mehr als nur das ist.

Ich habe das große Glück mit einem überaus engagierten, kämpferischen Team zu arbeiten und wir teilen alle den Denkansatz, immer wieder den Versuch zu wagen, benachteiligten Kindern Wege in ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Kommunikationstraining hat nämlich nicht nur etwas mit der Beratung von "Rockstars" (ich hoffe, Du verzeihst mir diesen Ausdruck) zu tun. Geld wird woanders verdient. Die Benachteiligungen, mit denen z. B. unsere Kreuzberger Kinder aufwachsen, liegen nicht nur in dem sozialen Umfeld oder der Tatsache, daß viele sogenannter "nichtdeutscher Herkunft" sind. Seit einiger Zeit arbeite ich für für eine Integrationsschule, bei der gemeinsame Erziehung und Bildung von behinderten und nichtbehinderten Kindern praktiziert wird.

Die äußeren Bedingungen meiner Arbeit dort werden täglich schlechter und ich habe immer mehr das Gefühl, als würde ich Bälle gegen eine Mauer spielen, von der sie abprallen und wieder zurückkommen - also ein Boomerang-Spiel in weniger optimistischer Variante. Immer öfter stecke ich in Situationen, in denen ich mich total hilflos fühle, weil ich Kindern nicht mehr helfen kann - das sind die Gelegenheiten, in denen ich melancholisch werde. Ich brauche dann einige Zeit, um mit meinem üblichen Kampfgeist wieder in`s Rennen zu ziehen. In einer solchen Situation stecke ich gerade jetzt und in- so- ferner- Nähe ist ein großer Teil meiner " Sternenlast" der Tatsache geschuldet, daß ich einfach - ich weiß nicht, warum, aber ich lebe mit dieser Gabe - mehr sehe als andere.

Manchmal genügt mir ein Blick in die Augen eines Kindes und ich sehe, welche Last es mit sich herum trägt. Ich komme mir manchmal vor, als hätte ich Augen am Hinterkopf, Ohren an den Füßen und Empfangsantennen im Gehirn. So hilfreich eine solche Begabung in meinem Job auch ist, glaube mir, ich habe sie schon manchmal verflucht! - Soweit die ernsthaften Mitteilungen über mich!

Jetzt zu einem Thema, welches zu mir passt, zu Dir und zu dem von Dir erwähnten Hörspiel über den 9. November 1989 - ich würde es Dir gern als „Wochenthema“ vorschlagen: „Mauern in den Köpfen?“

Warum? - Du ahnst oder weißt es längst, wie ich auch! Auf diesem ominösen Moebius- Band sind sich ein Wessi und eine Ossi begegnet! Warum können manch andere nicht, was wir virtuell können - nämlich miteinander "reden" und einander " zuhören"? Oder können es alle und der o.g. Spruch stammt aus journalistischen Sommer-Loch-Gehirnen? Was denkst Du?

Zum Schluß meiner ernsthaften und auch längeren E-mail eine leichtgewichtige, amüsante Short- Story aus dem wahren, alltäglichen Leben einer BVG-Benutzerin, die zu Deinem Song "Gute Gründe" passt:

Am Donnerstag auf dem Heimweg im Bus wurde ich zwangsläufig, da ohne meinen Willen, ZuhörerIN einer relativ lauten Unterhaltung eines Paares. Sie saßen beide hinter mir, ich drehte mich erst beim Aussteigen um und sah zwei etwa 17jährige. Beider Dialog begann: ER „Ick vastehe jar nich, wieso du zu die Nachhilfe jehst!“ / SIE „Ich denke eben an meine Zukunft.“ - Kurzes Schweigen, abgelöst von einer ausgesprochen schwerwiegenden Diskussion übers „Fremdgehen“ und die Treue, die letztlich in einer klaren An- oder Aussage, vielleicht eher Aussage, von ihm gipfelten. ER „Also meene Schwesta is schon seit vier Jahre mit een Typen zusamm un die is dem ooch schon fremdjejangen, aber der hat sie immer allet verzeiht!“

Beim Aussteigen war ich kurze Zeit in der heftigen Versuchung, zu dem Mädchen zu sagen: „Um Gottes willen, renne bloß weit weg! - Frau kann ja Männern einiges verzeihen, aber nicht, daß sie nicht sprechen können!“

Ich habe es mir verkniffen - ich bin sicher, in spätestens 20 Jahren hat sie es dann selbst begriffen!


M(it) F(reude) G(rüßt) Uschi Charly


1. Nachtrag: Das Moebius-Band fängt an, sich in meinem Kopf einzunisten - wenn es nicht schon drin ist - als eine weltanschauliche Variante, die mich sowohl neugierig macht, als auch beginnt, mich zu verwundern. Daß Du mir ausgerechnet dann eine E-mail mit einem Rat für Verheiratete schickst, wenn ich auf dem Weg zu einer Hochzeit bin, macht mich sehr nachdenklich!

2. Nachtrag: Ich hoffe, daß „alles wie von selbst geht“ und Du viel Spaß und Glück in Hannover hast und trotzdem noch Zeit findest, mir be-denkenswerte E- mails zu schreiben!

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